10. Februar 2025
"Nein danke, ich verzichte gerade auf…….." oder "Ach, lass uns das im Februar machen, ich verzichte gerade auf ….. und da ist es echt schwer für mich, im Restaurant was Passendes zu finden". Das habe ich in den letzten Wochen immer wieder zu hören bekommen. Und ja, ich bin ganz ehrlich, es nervt mich zunehmend. Und was mich nervt, verdient, genauer erforscht zu werden. Deshalb habe ich mich einmal in die Recherche gestürzt und lasse Dich gerne an meinen Erkenntnissen und Meinungen teilhaben:
Alkohol (Dry January), tierische Produkte (Veganuary) und inzwischen auch Zucker liegen im Verzichts-Trend ganz vorne. Da ich mich mit dem Thema Intuitiv Essen und Diätkultur intensiv beschäftige, wollte ich der Sache etwas mehr auf den Grund gehen. Fragen, die mich geleitet haben:
- Was ist eigentlich die Historie dahinter?
- Was motiviert Menschen zu diesem Verzicht?
- Wie nachhaltig ist ein solches Verhalten wirklich?
- Welche Vorteile, Nachteile, Chancen und Risiken ergeben sich daraus?
Ach, übrigens: Ich selbst habe mir dieses Jahr nach langem Verzicht auf Vorsätze tatsächlich was vorgenommen. Was und wieso, verrate ich Dir am Schluss dieses Blogs.
So, nun aber zu den Antworten zum „Verzichtsmonat“
Historischer Hintergrund
- Der Dry January wurde 2013 von der britischen Organisation „Alcohol Change UK“ ausgerufen, um das Bewusstsein für den eigenen Alkoholkonsum zu schärfen. (Irgendwie überrascht mich das jetzt nicht – obwohl es auch gut zu Deutschland gepasst hätte ) Allerdings gab es 1942 (!) wohl bereits von der finnischen Regierung eine Initiative (Sober January) um die Kriegstauglichkeit zu erhöhen. Ok, da hätte ich bestimmt meinen Alkoholkonsum noch erhöht….
- Der Veganuary wurde anscheinend ebenfalls in Großbritannien ins Leben gerufen und soll dazu dienen, Menschen auf pflanzenbasierte Ernährung neugierig zu machen und auf das Thema Tierwohl und Klimawandel hinzuweisen.
Meines Erachtens sind das auf den ersten Blick einleuchtende und vernünftige Ansätze. Ich kann mir sogar vorstellen, einmal eine 2-Wochen-Challenge mit Freunden zum Thema vegane Ernährung zu machen, um neue, kreative Rezeptideen zu entdecken. (Bei Alkohol bin ich seit 2,5 Jahren raus, da ich in der Tat auf dem besten Weg war, völlig die Kontrolle über Alkohol zu verlieren. Dazu aber gerne ein anderes Mal.)
Ja, und wie es oft so ist, hat sich die Diätkultur nicht nur die zwei ursprünglichen Kampagnen gekapert, sondern hat gleich noch weitere dazu erfunden – ganz vorne steht der Zuckerverzicht.
Und hier kommen nun meine
Warum ist eigentlich Verzicht eine so große Sache?
Der Januar ist der Monat der Neuanfänge. Nach den oft reichhaltigen Feiertagen sehnen sich viele nach einem Neustart. Hier ein paar der Hauptgründe für einen solchen Verzicht:
- Gesundheit: Viele Menschen meinen, sie müssten ihrem Körper nach der Festzeit durch Verzicht etwas „Gutes“ tun. Das ist das ideale Einfallstor für die Diätindustrie. Deshalb wurde der Januar schon vor vielen Jahren als DER Werbemonat für alle Arten von Verzichtsbotschaften und dazu passenden Erfolgsversprechen von der Diät- bzw. Lifestyle-Industrie entdeckt. Man könnte die ganzen Aktivitäten unter dem Slogan „Kein Genuss ohne Reue!“ zusammenfassen.
- Selbstkontrolle: Die Fähigkeit, bewusst auf etwas zu verzichten, kann als persönliche Errungenschaft empfunden werden. Dies kann einem das erhebende Gefühl geben, über den Dingen zu stehen, mehr Selbstwirksamkeit zu erleben. In gewisser Hinsicht ist dies gerade mit Blick auf die aktuellen globalen Herausforderungen für mich sogar nachvollziehbar: Wenn ich schon nicht das, was draußen passiert, kontrollieren kann, dann doch wenigstens mein Verhalten. Übrigens: diese Art von Kontrollmacht ist ein weit verbreitetes Phänomen bei Menschen, die an Anorexia Nervosa erkrankt sind.
- Neugier: Ja, die gibt es auch: Menschen, die einfach aus reiner Neugier einen solchen Selbstversuch starten, oft auch angeregt durch Menschen, denen man verbunden ist. Und das war ja ursprünglich die Intention dieser Kampagnen: Neugier und Experimentierlust wecken, ohne gleich mit dem erhobenen Zeigefinger herumzufuchteln.
- Soziale Trends: Kampagnen wie Dry January oder Veganuary schaffen eine Gruppendynamik, die zum Mitmachen motiviert. So kann man sich dazugehörig fühlen. Siehe hier auch die ganzen „Challenges“ die es im Januar gibt. Oftmals werden diese Challenges aber leider von Akteuren der Diätindustrie angeboten.
Die positiven Effekte des Verzichts
Ein bewusster Verzicht kann sicherlich Vorteile mit sich bringen, allerdings ist es wichtig, diese aus einer kritischen Perspektive zu betrachten:
- Bewusstere Wahrnehmung: Menschen reflektieren ihre Gewohnheiten vor allem im Bereich Essen & Trinken. Doch oft geschieht dies aus einem kontrollierenden statt einem achtsamen Mindset heraus, was langfristig kontraproduktiv oder sogar schädlich sein kann.
- Neue Routinen: Der Verzicht kann durchaus zu Gewohnheiten führen, die uns zufriedener machen. Nun zum ernährungsbezogenen Verzicht: Erzwungener Verzicht, der darauf abzielt, sein Gewicht reduzieren oder kontrollieren zu wollen, kann schnell zu einer Gegenreaktion unseres Körpers (z.B. Essattacken) und Versagensgefühlen führen. So kann ein regelrechter Teufelskreis gestartet werden. Doch nicht wir versagen, sondern unser Körper versucht zu überleben! Das habe ich bereits in meinem Blog „Was passiert, wenn wir hungern“ beschrieben. Und trotzdem nochmal als Bestärkung: nicht wir versagen, sondern das Diätversprechen,, die Produkte der Diätindustrie versagen und zwar mit einer Versagensquote von 95%!
Ich merke schon, ich kann keinen neutralen Beitrag über dieses Thema schreiben. Machen wir aber weiter, vielleicht kommt ja am Schluss doch noch was Gutes raus
Widmen wir uns den Herausforderungen und Schattenseiten
So positiv Verzicht auf den ersten Blick erscheinen mag, er birgt auch Risiken und Nachteile:
- Kurzfristigkeit: Viele kehren im Februar zu alten Mustern zurück, was Schuldgefühle und ein Gefühl des Versagens auslösen kann. Oder wir nutzen den Verzicht im Januar als Freifahrschein für das ganze Jahr. Ganz nach dem Motto: Ich habe mir gerade bewiesen, dass ich auf Alkohol verzichten kann. Also kann ich jetzt getrost den Rest des Jahres weitersaufen…. (Mhm, das Argument hätte mich in meinen schlimmsten Zeiten echt gekapert :)
- Restriktion statt Balance: Ein radikaler Verzicht kann ein ungesundes Schwarz-Weiß-Denken fördern, das langfristig die Intuition beim Essen untergräbt.
- Soziale Auswirkungen: Menschen, die nicht verzichten, können sich verurteilt oder ausgeschlossen fühlen. Dies verstärkt gesellschaftlichen Druck und die Idee, dass Kontrolle über Ernährung gleichzusetzen ist mit Selbstdisziplin und Erfolg. Und dies wiederum kann das Vertrauen in unseren Körper bzw. das Vertrauen unseres Körpers in regelmäßige und ausgewogene Versorgung zerstören.
- Psychischer Druck & Teufelskreis der Diätkultur: Besonders junge Frauen und vulnerable Gruppen laufen Gefahr, sich durch den gesellschaftlich gefeierten Verzicht in restriktive Ernährungsgewohnheiten zu verstricken. Der Entsagungsmonat kann somit Teil eines Zyklus aus restriktiven Phasen und anschließenden „Cheat“-Phasen werden, der die Diätkultur weiter normalisiert und unsere Verbindung zu unseren Körpersignalen weiter aushöhlt.
- Einfluss der Diätkultur: Die allgegenwärtige Botschaft, dass der Körper nach den Feiertagen „gereinigt“ oder „optimiert“ werden müsse, verstärkt den Druck, auf bestimmte Nahrungsmittel oder Gewohnheiten zu verzichten. Oft wird Verzicht mit Selbstdisziplin und moralischer Überlegenheit verknüpft, anstatt mit einem bewussten und entspannten Umgang mit dem eigenen Körper. Dies trägt dazu bei, dass restriktives Essverhalten gesellschaftsfähig bleibt und der Glaube an „gute“ und „schlechte“ Lebensmittel weiter zementiert wird.
Ist Verzicht nachhaltig?
Solange die Neugier und die Freude am Experimentieren im Vordergrund stehen, können solche gesellschaftlichen Trends vielleicht Impulse setzen und das Bewusstsein für bestimmte Themen auf spielerisch Art schärfen.
Wäre hier im Hintergrund nicht inzwischen die Diät- und Selbstoptimierungskultur so sehr am Agieren, finde ich solche Kampagnen durchaus interessant. Nachhaltiger und gewinnbringender als erzwungener Verzicht ist es meines Erachtens jedoch, eine entspannte und achtsame Beziehung zum eigenen Körper und Essen zu entwickeln – ohne Schuldgefühle oder starre Regeln.
Statt sich auf Einschränkungen zu fokussieren, rege ich dazu an, sich selbst ein paar Fragen zu stellen, bevor man startet:
- Welches Ziel verfolge ich mit einer solchen Aktion?
- Welches Ziel verfolgt der oder diejenige, die dazu aufrufen oder mich dazu einladen? (Wollen sie in der Tat mein Bewusstsein schärfen oder mir etwas verkaufen?)
- Würde mir eine solche Aktion wirklich gut tun oder befeuert sie meine Diätmentalität?
- Wie kann ich lernen, auf meinen Körper zu hören, ohne mich durch äußere Regeln oder gesellschaftliche Trends beeinflussen zu lassen?
- Was tut mir gerade gut? Was brauche ich?
So, und nun verrate ich Dir noch meinen Vorsatz für 2025: Gut zu mir sein. Das ist alles. Und dieser Vorsatz tut mir richtig gut 😊
Nun bin ich neugierig auf Deine Erfahrung mit dem „Verzichtsmonat“ Januar.
Interaktive Reflexion: Deine Erfahrungen mit Verzicht
- Hast du im Januar auf etwas verzichtet? Wie war deine Erfahrung?
- Falls nicht: Hast du in deinem Umfeld Veränderungen bemerkt?
- Glaubst du, dass ein kurzfristiger Verzicht nachhaltige Effekte hat?