6. Februar 2023
"Demnächst wird wieder ein Gesundheitstag in unserer Firma stattfinden. Da gehe ich auf keinen Fall hin....
...deshalb muss ich schauen, dass ich da noch einen Termin außer Haus machen kann - oder ich nehme einfach einen Tag Urlaub…." sagte vor Kurzem ein guter Freund zu mir.
"Wieso denn das? Solche Tage sind doch super für einen persönlichen Check-up und neue Gesundheitsimpulse." antwortete ich "Ja schon, aber ich fühle mich da nie wirklich wohl. Meistens bekomme ich nahe gelegt, abzunehmen, mich mehr zu bewegen und gesünder zu essen. Und mir wird immer aufgezählt, welche gesundheitlichen Konsequenzen mein Übergewicht hat - das geht schon seit Jahren so. Aber keiner fragt mich, wie ich lebe und wie es mir mit solchen Aussagen geht. Ich mache meine Arbeit echt gerne, aber diese ständigen ausgesprochenen und unausgesprochenen Vorwürfe kosten mich echt viel Energie. Ich habe schon soooo viele Versuche hinter mir, was abnehmen angeht - und hinterher wiege ich dann meistens mehr als vorher. Das ist wirklich sehr, sehr frustrierend. Deshalb ist so ein Gesundheitstag für mich ganz besonders unangenehm."
Was mein Bekannter da beschrieb, brachte mich auf die Idee, diesen Artikel hier zu verfassen, denn mir wurde durch ihn nochmal sehr deutlich bewusst, dass Diätkultur und Gewichtsstigmatisierung sich nicht nur belastend auf Menschen, sondern auch schädlich auf Unternehmen auswirken:
- Diäten sind für den Körper eine Hungersnot - er spart Energie, wo er kann. Folglich können sie sich negativ auf die Leistungsfähigkeit auswirken.
- Diäten und Weight-Cycling machen in den meisten Fällen auf die Dauer dick und krank - dies birgt die Gefahr krankheitsbedingter Ausfälle.
- Hochgewichtigen Menschen werden oft fehlende Disziplin und mangelnde Intelligenz unterstellt. Studien haben gezeigt, dass sie geringere Karrierechancen haben. D.h. dass hier Potenzial verschwendet wird.
- Vermeintlich gut gemeinte Anmerkungen wie: "Probier doch mal die xxx-Diät - hat bei mir auch geklappt" oder "Willst Du dich nicht etwas mehr bewegen und gesünder essen - so viel Gewicht mit sich herumschleppen muss doch anstrengend sein." - sind übergriffig und kränkend. Permanente Kränkungen können das Selbstwertgefühl und die Leistungsbereitschaft negativ beeinflussen. Und sie erzeugen Stress. Die gesundheitlichen Folgen von permanentem Stress sind hinlänglich bekannt. Auch hier drohen Mehrkosten durch Leistungseinschränkung und Arbeitsausfall.
- Unternehmen sind - bedingt durch unsere gesellschaftliche Ausrichtung auf Schlankheit - oft blind für die Bedürfnisse großer und schwerer Menschen. So müssen diese sich z.B. noch immer mit Sitzmöbeln herumquälen, die einfach nicht für sie ausgelegt sind. Wenn dann doch einmal ein Antrag auf einen passenden Bürostuhl gestellt wird, wird wieder - unbewusst - Gewichtsstigmatisierung betrieben. "Wir können Dir auch einen Abnehmkurs bezahlen - das wäre doch generell besser für Dich…." - Hier besteht eher die Gefahr, dass Motivation und Loyalität weniger werden, aber nicht das Körpergewicht.
- Hochgewichtige werden medizinisch oft nicht gut versorgt, da das Gewicht meist als Krankheitsursache angesehen wird. Die Krankheit wird deshalb oft nicht so schnell erkannt und behandelt wie bei schlanken Menschen - längere krankheitsbedingte Fehlzeiten sind die Folge, für die auch Unternehmen bezahlen müssen.
Ein Beispiel gefällig? Eine Freundin wurde mit den Worten "nehmen Sie erst mal ab, dann hören die Schmerzen im Knie von alleine auf" - beim Arzt abgespeist. Sie suchte sich einen anderen Arzt, der eine ausführliche Untersuchung machte und einen Meniskusschaden feststellte…. - Arztbesuche werden aufgrund von negativen Erfahrungen vermieden - wieder leidet die medizinische Versorgung. Längere und schwerere Krankheitsverläufe können die Folge sein. Wieder Kosten, die auch Unternehmen betreffen.
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Diese Beispiele zeigen m.E. recht gut, dass Diätkultur und Gewichtsstigmatisierung sich nicht nur negativ für die Betroffenen auswirken, sondern auch Unternehmen schaden.
Na, dann stelle ich doch lieber keine hochgewichtigen Menschen ein - denkt jetzt vielleicht der eine oder andere Leser. Und genau das passiert auch so. Hochgewichtige Menschen werden in Bewerbungsprozessen häufig schon sehr, sehr früh aussortiert. Abgesehen davon, dass hier das Thema Diversity, gerade mit Füßen getreten wird, kann es sein, dass eine Chance für ein wunderbares Arbeitsverhältnis verpasst wird. Denn es werden Menschen aussortiert, die sich meistens ihren Weg mehr erkämpfen mussten, als ihre schlanken Mitstreiter:innen. Bei dem aktuellen Fachkräftemangel wird der Bewerberkreis durch dieses Denken noch weiter eingeschränkt - auch schade, oder?
D.h. im Umkehrschluss, dass es sich für Unternehmen durchaus lohnt, der schädlichen Diätkultur entgegen zu wirken und die Gewichtsneutralität im Unternehmen zu befördern. Es könnte sogar richtig gewinnbringend sein, sich als Unternehmen hier sichtbar anders aufzustellen, um all das wertvolle Potenzial in die Firma zu holen und zum Blühen zu bringen.
Unternehmen können also einen echten Benefit davon haben, wenn sie Gewichtsneutralität beim Thema Diversity mitdenken, z.B. in Form von
- gewichtsneutralen Gesundheitstagen / einem gewichtsneutralen BGM
- Aktivitäten gegen Gewichtsstigmatisierung
- Sensibilisierung für gewichtsneutrales Verhalten - sowohl im Rekrutierungsprozess als auch im täglichen Umgang miteinander
- Möbel für alle Menschen, ob groß oder klein - leicht oder schwer
- Angebote zur Stärkung der Mentalen Fitness für alle Mitarbeiter - evtl. mit Spezialangeboten für bestimmte Interessensgruppen
- Checken Sie die Karriereseite auf Ihrer Firmenhomepage: gibt es hier nur schlanke Menschen? Spiegelt das wirklich Ihre Firmenrealität wider?
Und hier noch ein paar Anregungen, wie Sie ein gewichtsneutrales BGM / einen gewichtsneutralen Gesundheitstag gestalten können:
- Gestalten Sie das BGM und die Planung eines BGM-Tages partizipativ. Achten Sie bei der Zusammensetzung des BGM-Teams auf größtmögliche Diversität. Es sollte mindestens eine hochgewichtige Person mit im Team sein.
- Verzichten Sie auf Gewichts- und BMI-Messungen (Körpermessungen). Bieten Sie lieber Wirbelsäulen-Screenings, Seh- und Hörtests, Lungenfunktionstests, Blutdruckmessungen, Kraft- und Beweglichkeitsmessungen oder Herz- und Stresstests an.
- Achten Sie bei Bewegungsangeboten (Rückenschule, Yoga, Qi Gong usw.) darauf, dass die Referenten gewichtsneutral agieren (z.B. Rückenschule auf passenden Stühlen, Lauftrainings mit Fokus auf Bewegung und nicht auf Gewichtsregulierung, keine Hinweise auf Kalorienverbrauch).
- Übrigens: Bewegung funktioniert am besten, wenn man Freude daran hat. Und ja, Bewegung ist wichtig für Herz- und Kreislauf, für Psyche und Körper.
- Achten Sie bei den Ernährungsvorträgen auf Gewichtsneutralität. Stellen Sie lieber den Genussfaktor in den Vordergrund. Heutzutage werden wir aus allen Kanälen mit Informationen zu gesundem Essen beschallt - viele können es schon nicht mehr hören. Auch hier zeigen Studien, dass Menschen eher zu sogenannten gesunden Lebensmitteln greifen, wenn deren Genussfaktor betont wird.
- Machen Sie den Unterschied: Ein Vortrag zu intuitivem Essen oder ein Genusstraining wäre z.B. eine klasse Alternative.
Zum Abschluss noch ein paar Fragen zur Anregung:
- Wie geht es hochgewichtigen Menschen in Ihrem Unternehmen?
- Welche Klischees haben Sie im Kopf, wenn es um Körperformen geht?
- Welche Klischees haben Sie im Kopf, wenn es um Ernährung geht?
- Betreiben Sie unbewusst Diät-Talk?("Das habe ich mir heute aber wirklich verdient" "Kalorienbomben" "oh je, das schlägt sich gleich auf die Hüften" "Du hast aber ganz schön zu-/abgenommen"….)
Zwei Fragen habe ich noch direkt an Sie als Leser:in:
- Wie erleben Sie das Thema Diätkultur und Gewichtsstigmatisierung in Ihrem Berufsleben?
- Welche Ideen haben Sie, um Diätkultur und Gewichtsstigmatisierung einzudämmen?
Ich freue mich über Ihre Antworten und Berichte - gerne auch per Direktnachricht an mich: karin@food2soul-coaching.de
Zum Weiterlesen:
12-08-23Adipositas_und_Beruf.pdf (uni-tuebingen.de)
Wie die Arbeitswelt dicke Menschen benachteiligt - SZ Magazin (sueddeutsche.de)
Stigmatisierung: Lehrer benachteiligen übergewichtige Schüler - Spektrum der Wissenschaft
Arbeitsrecht - Schwerer Stand im Büro - Karriere - SZ.de (sueddeutsche.de)